Neue Technologie: Apples Zukunft ist nicht das iPhone

Manchmal passiert eine Revolution, und kaum jemand bekommt sie mit. Im Sommer vor zwei Jahren zogen Millionen Menschen mit gezücktem Smartphone durch die Straßen, um ein paar niedliche Monster zu fangen. Sie wollten Spaß, ein bisschen Bewegung, doch nur die wenigsten ahnten, dass sie gerade beim Beginn der Zukunft dabei waren. Denn auch wenn “Pokémon Go” nach ein paar Wochen von den meisten Smartphones wieder verschwunden war, die dahinterliegende Technik – sie heißt Augmented Reality, abgekürzt AR – war gekommen, um zu bleiben.

Die Revolution der Wirklichkeit

“Augmented Reality” heißt übersetzt “Erweiterte Realität” – und genau darum geht es: Die echte Welt mit virtuellen Dingen anzureichern. Das können kleine Monster sein, wie bei “Pokémon Go”, es können aber auch Texttafeln über Immobilien, Richtungspfeile auf dem Boden oder sogar andere Menschen sein. Was damit jetzt schon möglich ist, demonstrierte Apple eindrucksvoll gemeinsam mit dem schwedischen Spielwarenhersteller Lego auf der diesjährigen Entwicklerkonferenz WWDC. 

Mit Hilfe eines kleinen Spielzeughauses erschuf der Konzern ein Augmented-Reality-Game im Sims-Stil. Das große Novum: Erstmals können zwei Menschen parallel spielen. Das klingt trivialer, als es ist. Denn die Herausforderung besteht darin, dass zwei Nutzer mit jeweils eigenem Gerät (etwa ein Smartphone und ein Tablet) das gleiche virtuelle Objekt an derselben Stelle sehen.

Was sich wie eine Spielerei anhört, ist der Grundpfeiler für die Welt von morgen. AR wird alle Bereiche unseres Alltags umkrempeln, glaubt Apples Marketingchef Phil Schiller. „AR kann alles verändern. Die Art, wie wir spielen, wie wir in der Schule lernen. Wie wir Apps im Berufsalltag verwenden oder in der Schule unterrichten”, erklärte Schiller dem stern im vergangenen Dezember.

Bislang gibt es viele Demos, aber kaum gute Inhalte. Auf der WWDC veröffentlichte Apple mit ARKit 2.0 deshalb neue Schnittstellen für Entwickler. Google schlug mit ARCore auf der eigenen Messe I/O in eine ähnliche Kerbe. Die großen Techfirmen arbeiten mit Hochdruck daran, AR allgegenwärtig zu machen. Irgendwann wird die Technik so zum Alltag dazugehören „wie drei Mahlzeiten am Tag“, sagte Cook in einem Interview.

Der Katalog der Zukunft

Eine der ersten bekannten Marken, die auf AR setzte, war Ikea. Die App “Places” ermöglicht es, Möbel aus dem Katalog virtuell in den eigenen vier Wänden zu platzieren – und zwar maßstabsgetreu. Wer wissen will, wie das knallgelbe Sofa im Wohnzimmer aussieht, muss nur noch einen Knopf auf dem Smartphone drücken.

Die App “Dulux Visualiser” funktioniert ähnlich wie die von Ikea, nur stehen hier keine Möbel im Vordergrund, sondern Wandfarben. Der Kosmetikhändler Sephora wiederum nutzt die Technologie, um zu zeigen, wie Lippenstifte, Lidschatten oder falsche Wimpern an einem selbst aussehen würden. Drei völlig unterschiedliche Beispiele, die alle einen Vorgeschmack auf den Katalog der Zukunft geben. Dann möchte man nicht mehr nur sehen, wie etwas aussieht, sondern wie es an einem selbst aussieht.

Bei Augmented Reality geht es aber nicht nur um Shopping, sondern auch um das Lösen von Alltagsproblemen. Apple bringt mit iOS 12 eine vorinstallierte App auf jedes iPhone, die schlicht “Messen” heißt. Um herauszufinden, wie lang eine Wand oder wie hoch ein Regal ist, muss man einfach mit der Kamera an der Kante entlangfahren. Das Smartphone wird auf diese Weise zum digitalen Maßband. Das klappt noch nicht auf den Millimeter genau, aber für eine Beta-Version schon erstaunlich gut.

Die Technologie könnte in Zukunft aber auch Leben retten, oder zumindest das Verständnis unseres Körpers verbessern. An der Universität von Alberta haben Experten eine Software entwickelt, die Daten aus der medizinischen Bildgebung – etwa von einem CT oder MRT – in Echtzeit auf den Körper des Patienten überträgt. Ärzte könnten so dank AR sehen, was sich im Körper des Patienten befindet, ohne das Skalpell zücken zu müssen.

“Wir wollten ein System entwickeln, dass uns die interne Anatomie des Patienten im Kontext des Körpers zeigt”, erklärt Ian Watts, einer der Entwickler des Systems. Es gebe viele Anwendungsbereiche für eine solche Technologie, von Ausbildung über Physiotherapie bis hin zur OP-Planung. Der Clou: Ärzte können einzelne Ebenen ein- und ausschalten und sich etwa nur die Lunge oder die Blutgefäße anzeigen lassen. 

Den Durchbruch bringt die AR Cloud

Wenn die Welt zur Projektionsfläche wird, auf der Computer Informationen einblenden, bedeutet das allerdings auch, dass Computer unsere Umgebung genauer als je zuvor erfassen müssen. Bei der Lego-App ist es vergleichsweise simpel, hier muss die Kamera nur einen ebenen Untergrund erkennen. Doch bei Navigations-Apps oder aufwendigen 3D-Modellen benötigt man zwingend ein 1:1-Abbild der Wirklichkeit. Das soll die sogenannte AR Cloud liefern.Interview Arthur Schiller

Doch wie vermisst man die Wirklichkeit? Genauigkeit ist der Schlüssel, wenn es um den Erfolg der AR Cloud geht. Man benötigt ein ständig aktualisiertes 3D-Modell der echten Welt. Wem das am Ende gelingt, ist noch unklar. Womöglich schafft ein Großkonzern wie Apple oder Google den Durchbruch, vielleicht aber auch ein bislang unbekanntes Start-up. Dutzende kleine Firmen auf der ganzen Welt arbeiten mit Hochdruck an Technologien, die anhand von Künstlicher Intelligenz, Bilderkennung und cleveren Algorithmen aus einfachen Fotos Größen- und Tiefeninfomationen auslesen können.

Die Fortschritte sind groß. Apples “Messen”-App kommt ohne spezielle Sensoren aus, es genügt ein Livebild der Kamera. Mit Hilfe der durch Bitcoin bekannt gewordenen Blockchain-Technologie könnte zudem sichergestellt werden, dass alle Nutzer permanent die aktuellsten Daten empfangen. Auch das wäre eine Notwendigkeit der AR Cloud.

AR ist der nächste Suchschlitz

3D-Daten sollen nicht nur für Spiele wie “Pokemon Go” verwendet werden, sondern auch für touristische Zwecke. Die Vereinigten Arabischen Emirate lassen derzeit zum Beispiel Dubai vermessen, um den Tourismus anzukurbeln. Schon 2019 sollen die ersten Projekte zu sehen sein. Die Baubranche könnte AR nutzen, um Kunden zu zeigen, wie ein fertig errichtetes Gebäude in seiner echten Umgebung aussehen wird. Und ein Menschheitstraum könnte sich erfüllen, zumindest ein bisschen: Dass Menschen, die sich an unterschiedlichen Orten auf der Welt befinden, virtuell in einem Raum aufeinander treffen und gemeinsam miteinander reden oder arbeiten. 

Experten glauben, dass eine funktionierende AR Cloud ähnlich bedeutend wird wie Googles Suchschlitz. “Es wird die wichtigste Software-Infrastruktur werden, viel wertvoller als Facebooks Social Graph oder Googles Pagerank Index”, schreibt Ori Inbar auf “Medium”.Apple stellt iOS 12 vor 8.25

Apples nächstes großes Ding – eine intelligente Brille

Wie wir mit der erweiterten Wirklichkeit interagieren, ist aber nicht nur eine Frage der Software, sondern auch der Hardware. Solange wir permanent ein Smartphone oder Tablet in die Höhe halten müssen, bleibt AR eine Spielerei.

Doch Unternehmen wie Apple arbeiten längst schon an der Phase danach: Eine Jobanzeige aus der vergangenen Woche lässt erahnen, wo die Reise für den iPhone-Riesen hingeht. Gesucht wurde ein Programmierer für 3D-Oberflächen, der “völlig neue Interaktionsmöglichkeiten” erschaffen soll. Man muss nicht viel hineindeuten, um zu verstehen, dass Apple nach Personal für seinen nächsten großen Coup sucht – eine smarte Brille.

Experten schätzen, dass 2021 die ersten Smartglasses als Brille oder Kontaktlinsen marktreif sein könnten. Die hätten deutlich mehr auf dem Kasten als die gefloppte Datenbrille Google Glass. “Google Glass sah gruselig aus und war unangenehm zu tragen. Die Technik war noch nicht reif. Im Prinzip wurden Daten und Grafiken nur übergeblendet. Das hat nichts mit der Technik in Zukunft zu tun. Richtige Smartglasses sind eine andere Liga”, sagt Arthur Schiller, einer der anwesenden Entwickler auf der WWDC, der sich auf Augmented Reality spezialisiert hat.

„Das ist nichts, was uns zufriedenstellen würde“

Die Anforderungen an die Brillen sind hoch: Sie müssen modernste Technik auf engem Raum bieten, dabei aber dezent aussehen. Niemand möchte permanent das Gegenüber mit einer Kamera am Auge anschauen. Die Brillen dürfen nicht zu anfällig für äußere Einflüsse wie Regen oder Wasser sein. Und natürlich dürfen sie nicht zu viel kosten. 

Apple WWDC Kommentar 6.20

Die Qualität der Brillen sei derzeit aber noch nicht gut genug, um den Ansprüchen von Apple gerecht zu werden, erklärte Cook im Interview mit der Modezeitschrift „Vogue“„Uns interessiert es überhaupt nicht, ob wir diese [Technologie] als erste entwickeln oder nicht – wir wollen diejenigen sein, die Käufern das beste Erlebnis bieten. Das, was Sie eventuell demnächst auf dem Markt sehen, ist nichts, was uns zufriedenstellen würde.“

Wenn Apple-Chef Tim Cook in ein paar Jahren also bei einer der Keynotes auf die Bühne tritt, um ein völlig neues Produkt anzukündigen, könnte es sein, dass man es zunächst gar nicht als solches erkennt. Womöglich muss man erst ganz genau hinschauen, um zu entdecken, dass an seiner Brille etwas anders ist als sonst.

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