Spotify-Listen: Sommerhit oder Flop? Besuch bei den Menschen, die wissen, was wir hören wollen

Eines Morgens hatte Manuela Wurm dieses Lied im Ohr. Es hieß „6 or 7 Weeks“. Gehört hatte sie es am Vorabend, bei einem Konzert der Indieband Nosoyo, irgendwo in Berlin-Kreuzberg. 50 Leute waren dort gewesen, mehr nicht.

Aber die Melodie hatte etwas. Sie trug Manuela Wurm in den Tag, in die U-Bahn, von Neukölln nach Mitte, bis ins Büro. Wurm lief zu ihrem Schreibtisch, fuhr den Rechner hoch, setzte ihren klobigen Kopf hörer auf, suchte das Lied, fand es, summte mit, hielt die Maustaste gedrückt – und schob die Melodie in die Liste „Pop Brandneu“.Spotify Tricks Foto-Strecke

Ein paar Tage später hatten auch andere das Lied gehört. Viele andere. Hunderttausendfach war es gespielt worden. Denn Wurm ist nicht irgendwer. Sie ist Listenmacherin bei Spotify, dem erfolgreichsten Streamingdienst für Musik.

Listen verdrängen Alben

Hundert Millionen Kunden hat Spotify weltweit. Immer weniger von ihnen hören Alben oder eigene Liedersammlungen. Sie machen es sich einfacher. Sie hören sich durch Listen von Profis. Es sind Listen für jede Lebenslage: Musik zum Laufen oder Lachen, zum Abendessen oder Einschlafen, zum Duschen oder Putzen. Und die Liste „Confidence Boost“ soll sogar das Ego steigern.

4500 dieser Sammlungen hat Spotify im Repertoire, 40 davon werden jeweils von mehr als einer Million Followern genutzt. Über eine Milliarde Lieder pro Woche, behauptet Spotify, werden über die Profilisten gehört. Die erfolgreichste in Deutschland zusammengestellte Liste heißt „Top Hits Deutschland“ , sie hat über 630.000 Follower. „Playlisten sind stärker denn je im Fokus der User“ , sagt Holger Christoph, bei der Plattenfirma Universal fürs digitale Geschäft in Europa zuständig. „Streamingdienste heuern derzeit viele Experten aus dem Radio, Musikfernsehen oder anderen Musikmedien an.“

Bei Spotify arbeiten 50 dieser Kuratoren, weltweit. Es sind Spezialisten für die verschiedenen Musikrichtungen darunter, aber auch für Regionen und Länder. Die Listenmacher müssen ihr Publikum genau kennen, um den Ton zu treffen. In Deutschland ist Manuela Wurm die Chef-Listenmacherin. Zu ihrem Team gehören Andreas, Experte für Deutsch-Hip-Hop, und Mandy. Mandy konzentriert sich auf Pop.Spotify-Tipps 12.16

Zwischen „The Hoff“ und Berghain

Das Berliner Spotify-Büro liegt in der Nähe des Potsdamer Platzes. Über einen leuchtend roten Teppich geht es die Treppe hinauf in den vierten Stock, in ein Großraumbüro mit langen Tischen, vielen Laptops und einigen verglasten Besprechungszimmern, die mehr oder weniger originelle Namen tragen: „The Wall“, „The Hoff“, „Berghain“. In einem Saal mit Bühne nehmen Bands ab und zu Songs auf, vor kleinem Publikum, für „Livesessions“.

Die Stimmung an diesem Tag ist aufgekratzt. Am Abend wollen sie Einweihung feiern. An der Decke taumeln silberne Luftballons mit grünem Firmenlogo, nachher wird die Bar für den Gin Tonic aufgebaut. Manuela Wurm ist 31, eine schmale Frau mit Longbobfrisur. In „The Wall“ legt sie ihr Werkzeug auf den Tisch: Laptop, Kopfhörer, Kaffeetasse. Sie stammt aus einem Dorf in den steirisch-niederösterreichischen Alpen. In den Sätzen schwingt die Melodie ihrer Heimat. Sie hat in Wien studiert, beim Radio und beim Musikfernsehen gejobbt, bei der Plattenfirma Sony Music gearbeitet. Irgendwann, sagt sie, habe sie aber näher herangewollt. An die Musik. An die Hörer.

Hat der Song das Zeug zum Hit?

Auf den ersten Blick macht Wurm das Gleiche wie ein Musikredakteur beim Radio. So hat sie ihren Beruf auch den Großeltern erklärt: „Das ist wie CDs sammeln fürs Radio, nur digital.“ Dabei hat sie ihnen unterschlagen, was der entscheidende Unterschied ist: die Daten. „Ich sehe viel sofort. Das macht das Streaming so faszinierend.“ Wurm klappt ihren Laptop auf und deutet auf den Bildschirm. Dort sind bunte Kuchengrafiken zu sehen. Sie zeigen, wie viele Leute ein Lied hören und mit wem Wurm es zu tun hat, männlich, weiblich, das Alter – über die Hälfte der Nutzer in Deutschland sind unter 30. Die Daten verraten, ob ein Song wieder und wieder gehört und in eigenen Sammlungen gespeichert wird, ob er viele – vielleicht alle! – begeistert, ob er das Zeug hat zum Hit. Die Daten vermessen das Gefühl, kühl und unbestechlich.Spotify-Vote

„Es gibt eine Art Netzwerk von Playlisten“ , sagt Wurm, ein Netzwerk mit unterschiedlichen Hörertypen und unterschiedlichen Reichweiten. Wenn ein Lied gut läuft, dann hilft sie ihm. Schiebt es von einer Liste in die nächste, zündet mit Maus und Melodie ein Feuerwerk in ihrer Listenwelt. „Es ist ein Gänsehautgefühl, wenn man erlebt, wie ein Hit entsteht und man ein bisschen Geschichte schreiben kann.“

Spotify trieb Streaming voran

Auch Spotify, 2006 von Daniel Ek gegründet, hat Musikgeschichte geschrieben. Die Schweden waren die Ersten, die das Streaming groß vorantrieben, die das Musikhören im Netz einfach, günstig und legal machten. Musik ist heute so verfügbar wie Wasser aus dem Wasserhahn. Es fließt sogar Geld. Die deutsche Musikindustrie macht knapp ein Viertel ihres Umsatzes mit Streaming. Dabei kaufen die Kunden die Musik nicht einmal, sie mieten sie.

Apple Music Zoff 14.44Ob sich das historische Verdienst für Spotify selbst auszahlt, ist ungewiss. Noch haben die Schweden keinen Euro Gewinn gemacht. Die Kosten für Lizenzen und neue Investitionen sind hoch. Immer wieder musste Daniel Ek Schulden machen, um mithalten zu können im immer härteren Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit und Zeit der Hörer. Die Herausforderer heißen Deezer, Tidal, Google Play Music oder sogar Aldi Life Musik, vor allem aber: Apple Music. 2015 ist der Gigant mit ungeheurer Wucht in den Markt eingestiegen.

Die harte Währung in dem Geschäft sind zahlende Abonnenten. Binnen eines Jahres hat Apple Music 15 Millionen für sich gewinnen können und damit heute schon halb so viele wie Spotify.

30, 40 Millionen Lieder haben alle

Zu den 30 Millionen Abonnenten der Schweden gehört inzwischen auch Wurms Vater. Sie kichert, als sie erzählt, wie sie ihn dazu brachte, daheim in Sankt Aegyd am Neuwalde. Am Anfang nutzte er ihr Profil. Dann hörte er mehr, immer mehr – bis sie ihn schließlich bat, seine Listen verborgen einzustellen. „Er liebt Schlager!“ Jetzt hat er sein eigenes Profil.

Abonnenten gewinnt, wer Besonderes bietet. Aber was soll das sein? Gigantische Musikbibliotheken mit 30, 40 Millionen Liedern haben alle. Auch der monatliche Abopreis von 9,99 Euro ist Standard, nur Aldi ist mit 7,99 Euro günstiger. Eine Besonderheit bei Spotify ist die Kostenlosversion, mit Werbung und ein paar Annehmlichkeiten weniger – die Musik kann nicht offline gehört werden, höchstens sechsmal pro Stunde darf ein Lied auf dem Smartphone übersprungen werden. Spotify hat so 70 Millionen Hörer zusätzlich gewonnen – ein Erfolg, auch wenn viele Künstler schimpfen, hier würden ihre Werke verschenkt.

Apple setzt auf exklusive Musik

Apple Music und Tidal setzen dagegen stärker auf exklusive Musik. So gab es „1989“ , das jüngste Album von Pop-Königin Taylor Swift, anfangs nur bei Apple zu hören. Spotify ist da noch nicht so weit. Die Schweden versuchen gerade, regionale Hörgewohnheiten besonders gut zu bedienen. Die Deutschen, heißt es in der Firmenzentrale in Stockholm, mögen das gesprochene Wort. Deshalb produziert Spotify jetzt den Podcast „Fest & Flauschig“, eine Talkshow von Moderator Jan Böhmermann und Musiker Olli Schulz. Das Format lief zuvor im öffentlich-rechtlichen Radio.

Die meistgestreamten Hochzeitssongs 2016Ohnehin träumen die Streamingdienste davon, eines Tages an die Stelle des Radios zu treten. Sie wollen beschallen, im Bad, in der Küche, im Auto – ihr Anspruch ist total. „Wir wollen jeden Moment des Lebens mit Musik anreichern“, sagt Nick Holmstén, Spotifys Programmchef und Oberlistenmacher. Mit Jeans, eng anliegendem schwarzen T-Shirt und silberner Halskette sieht der Endvierziger aus, als käme er direkt aus dem Übungskeller einer Band.

Dabei sitzt er nur im „Elton John“, einem Konferenzraum in der Stockholmer Firmenzentrale am Boulevard Birger Jarlsgatan. Für Holmstén ist klar: „Wenn wir unsere Hörer nicht verstehen, scheitern wir.“ Im Ringen der Streaminganbieter werde siegen, wer allen die exakt passende Musik für jede, wirklich jede Lebenslage liefere. Gewinnen werden die besten Listenmacher. Die schnellsten. Die kreativsten.

Das Wichtigste ist das Sequencing

„Wir beschäftigen uns die ganze Zeit damit, neue Use Cases zu ent wickeln“, sagt Manuela Wurm. Ein „Use Case“ ist ein Anwendungsfall. Wie duschen. Oder putzen. Musik ist zwar etwas Sinnliches. Aber wenn die Listenmacher ihre Use Cases erarbeiten, gehen sie vor wie Wissenschaftler. Zunächst stellen sie Hypothesen auf. In welchen Situationen wollen Nutzer Musik hören? Manuela Wurm hatte die Eingebung, eine Liste namens „Sonne“ anzulegen, darauf ist sie stolz. Sonne? „Na ja, das ist Musik, die so klingt, als würde man sie in der Sonne hören.“ Musik zum Wärmen, für einen seeblauen Tag.

Wurm suchte ein paar Charthits raus, ein paar Indiesongs, an die 50 Lieder. Dann arrangierte sie die Reihenfolge. Das „Sequencing“, die Dramaturgie, ist die zentrale handwerkliche Fähigkeit der Listenmacher.

Und? Hat die „Sonne“ funktioniert? Wieder zeigt Wurm auf die Kuchendiagramme. 205 000 Follower, Verweildauer 37 Minuten, 60 Prozent Männer, 40 Prozent Frauen, gehört wird die Liste vor allem sonntags zwischen 12 und 22 Uhr und am Montagnachmittag zwischen 16 und 19 Uhr. 37 Minuten also. Ist das gut? „Das ist gut“ , sagt Wurm. Ihre „Sonne“ gilt als Erfolg.

Auf der Jagd nach Störsongs

Wer Hörer hat, der will sie halten. Hunderte Listen muss Wurms Team ständig überprüfen, aktualisieren, manche einmal im Monat, andere zweimal in der Woche. Die drei jagen dann „Störsongs“. Dabei hilft ihnen die „Skippingrate“ . Als „geskipped“ , übersprungen, gilt ein Lied, wenn der Hörer es schon nach weniger als 30 Sekunden nicht mehr hören will. Wenn also Joel Adams eine Skippingrate von 32 Prozent hat, dann hatte ein Drittel der Hörer schnell genug von ihm.

Obama Musikgeschmack 19.51Nur, was heißt das? Ist Adams jetzt ein Störsänger? Wurm sagt, das hänge vom Kontext ab. Bei Listen mit Neuem zappen sich Nutzer eher fix durch. Sie wollen reinhören – und weiter. Hier liegen die Skipping raten bei 30, 40, 50 Prozent. Bei Listen zum Arbeiten oder Entspannen dagegen wollen sich Hörer gar nicht mit der Musik beschäftigen. Die soll im Hintergrund laufen. Die Skippingraten belaufen sich hier auf 15, 16 Prozent. Da stört schnell etwas – und muss aussortiert werden.

Algo oder Mensch?

An Ideen und Vorschlägen für neue Lieder mangelt es nicht. „Hey, Manu! Habt ihr das schon gesehen?“ , heißt es dann per Mail oder Videochat von den Kollegen aus Los Angeles oder New York. Die Kuratoren halten engen Kontakt zu den Plattenfirmen. Sie lesen Blogs, Feeds und besuchen Konzerte. Es geht immer um dasselbe: Läuft in den sozialen Netzwerken etwas viral? Gibt es einen neuen Star? Dabei helfen ihnen auch Maschinen: die Algorithmen. Wurm nennt sie, fast zärtlich, „die Algos“. Tempo, Gesangsanteil, Genre – sie kennen das Repertoire genau. Wurm setzt die Helfer dosiert ein. „Wenn es um Listen mit einem bestimmten Tempo geht, etwa für das Fitnesstraining – dann ja. Aber am Ende gibt es einen menschlichen Check.“ Bisweilen dürfen die Maschinen aber auch schon allein ran. „Dein Mix der Woche“ ist eine auf den Einzelnen zugeschnittene Liste. Der „Algo“ weiß, was der Nutzer sonst hört, daraus entwickelt er ein Muster und wählt aus. Sitzt Wurms härteste Konkurrenz also längst im eigenen Haus?

„Nein“, sagt sie, „der Maschine fehlen die Gefühle.“ „Nein“, sagt auch Nick Holmstén. Die Maschine, sie könne gar nicht so viel wahrnehmen wie der Mensch. Sie sei nicht im Jetzt einer Gesellschaft verankert, in ihrer Stimmung. Feiertags wollten die Menschen andere Musik hören als werktags. Als David Bowie gestorben sei, wollten alle seine Lieder hören. Ein menschlicher Listenmacher wisse das. „Eine Maschine“, sagt Holmstén, „kriegt das nicht mit.“

In „The Wall“ wird es jetzt eng, ein Kleiderständer wird reingeschoben. Entschuldigung, die Party. Manuela Wurm klappt ihren Laptop zu. Wenig später sitzt sie draußen auf dem Balkon. Ein DJ legt auf, der Himmel ist wolkenlos, das Licht weich und warm. Wurm lacht, sie hat ein Glas in der Hand. Eine Liste namens Sonne? Vielleicht käme das einer Maschine tatsächlich nie in den Sinn. Und auch jetzt, an diesem Sommerabend, entscheidet kein Algo, sondern ein DJ aus Fleisch und Blut über die musikalische Untermalung eines jeden Moments – und er trifft das Gefühl perfekt.DieDrei???_19.40

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