Im Jahr 1996 blickte die Generation Internet voller Zuversicht in die eigene Zukunft und voller Verachtung auf die Welt vor ihnen. John Perry Barlow proklamierte den unabhängigen Cyberspace der „Digital Natives“ und schrieb den Eltern ins Stammbuch: „Ihr seid voller Angst vor euren Kindern, denn sie sind in eine Welt hineingeboren, in der ihr immer nur Besucher sein werdet.“ Inzwischen sind die Digital Natives selbst Eltern. Nun fragt sich, wie es sich für ihre Kinder auswirkt, wenn die Eltern vor allem im Cyberspace zu Hause sind und ihre Aufmerksamkeit nur kurzfristig der Realität widmen. Jeder kennt dieses Bild: Kinder blicken in der Bahn ins Leere, während die Eltern vollkommen absorbiert den Cyberspace durchqueren.
Problem der Aufmerksamkeits-Ökonomie
Im angesehenen Fachblatt „Child Development“ hat Professor Brandon McDaniel von der Illinois State University mit der Co-Autorin Jenny Radesky eine Studie zu diesem neuen Phänomen veröffentlicht. Der Titel nimmt das Ergebnis voraus: „Technoference: Ablenkung von Eltern durch Technologie und der Zusammenhang mit Verhaltensstörungen der Kinder“ (Technoference: Parent Distraction With Technology and Associations With Child Behavior Problems).Internetsucht
Was ist mit Technoference gemeint? In einem begleitenden Artikel fragt McDaniel seine Leser, ob sie mit ihren Kindern einmal auf dem Spielplatz waren. „Was sehen sie da? Wenn sie es schaffen vom eigenen Smartphone hochzugucken, sehen sie andere Eltern, die auf ihre Geräte starren.“ Untersuchungen belegen, dass mehr als ein Drittel der Eltern auf einem Spielplatz zumindest eine von fünf Minuten auf ihr Gerät starren.
Besser als der Durchschnitt
Die neue Studie umfasste 170 Familien mit zwei Eltern und zumindest einem Kind, das älter als ein Jahr ist. Die meisten Mütter und Väter sind Anfang 30. Wirklich repräsentativ ist die Studie nicht, die Teilnehmer sind durchweg gebildeter als der Durchschnitt der Bevölkerung, auch scheinen ihre Lebenssituationen gesicherter. Sie alle wurden befragt, wie häufig ihre Aufmerksamkeit während ihrer gemeinsamen Zeit mit den Kindern durch Smartphones und ähnliche Geräte unterbrochen wird. 48 Prozent gaben an, dass es drei Mal oder häufiger am Tag geschehe. 17 Prozent sagten, das passiere einmal am Tag und 11 waren sich sicher, dass es derartige Unterbrechungen nie gebe.
Hierbei handelt es sich allerdings um Selbstauskünfte, die Eltern wurden für die Untersuchung nicht überwacht. Man kann vermuten, dass die wirkliche Ablenkungsdauer und –intensität weit höher ist, als die wahrgenommene und vor Dritten zugegebene Störungsdauer. McDaniel ist sich bewusst, dass diese Studie nur als Versuchsballon dient und für belastbare Erkenntnisse genauere Untersuchungen notwendig sind.
Eindeutige Ergebnisse
Karasek: Smartphone-Sucht Sternstimme 16.42Schon aus früheren Forschungen ist bekannt, dass eine intensive Nutzung digitaler Technologien durch die Eltern meist zu schlechteren zwischenmenschlichen Interaktionen zwischen diesen Eltern und ihren Kindern führen, hier wurde nun erstmals nach den Auswirkungen auf die Kinder gefragt. Das Ergebnis ist eindeutig: Je mehr Technoference (in etwa Technik-Störungen), desto mehr Probleme macht der Nachwuchs.
Die Forscher schreiben, „sogar niedrige und scheinbar normale Mengen an Technoference sind mit größeren Verhaltensproblemen der Kinder verbunden.“ Als typische Probleme wurden Weinen, Schmollen, Ruhelosigkeit und verbale und körperliche Wutausbrüche angeführt. Ablenkungen der Mutter haben bedeutendere Auswirkungen, das liegt vermutlich daran, dass viele Familien in der befragten Gruppe einen traditionellen Lebensstil pflegen und die Väter insgesamt weniger Zeit mit den Kindern verbringen
Drei Beispiele aus dem Alltag
In drei typischen Szenarien beschreibt McDaniel wie frustrierend die schöne neue Digitalwelt für die Kinder ist.
Szenario 1: Das Telefon vibriert, während man mit seinem Kind spielt. Kurzer Check, nichts Wichtiges. Aber irgendwie endet man doch auf Facebook und Instagram. Nach ein paar Minuten schaut man auf, das Kind ist weggegangen.
Szenario 2: „Mama, Mama – kann ich was zu essen haben?“ Das Kind fragt und fragt – zwei Minuten lang. Am Ende fasst es auf das Telefon. Nun schaut die Mutter hoch und fragt irritiert: „Was?“
Szenario 3: Zahnbürsten-Zeit. Die Kinder sind lachend im Badezimmer. Man hört das Wasser rauschen und entspannt sich. Zeit, die E-Mail eines Freundes zu lesen. Man liest, dann antwortet man kurz. Wenn man damit fertig ist, sind die Kinder gar nicht mehr im Bad. Irgendwie toben sie in der Wohnung herum. Das Bad ist verwüstet. Man fragt: „Habt ihr euch auch die Zähne geputzt?“ Dabei kontrolliert man mit den Fingern, ob die Borsten auch nass geworden sind.
Was ist wichtiger: Kind oder Gerät?
McDaniel nimmt an, dass schon kurze Technik-Störungen, die den Augenkontakt und die Kommunikation mit dem Kind unterbrechen, zu starken negativen Auswirkungen führen. Das Problem ist nicht allein die dem Kind „gestohlene“ Zeit, offenbar bemerken die Kleinkinder genau, dass sie in der Aufmerksamkeitshierachie ihrer Eltern weit hinter den geheimnisvollen Geräten rangieren.
McDaniel sagt, dass man sich nichts vormachen sollte. „Wir müssen unsere Nutzung dieser Geräte sehr kritisch beobachten. Sie gehören nun einmal zu unserem Alltag. Diese Geräte sind dafür konzipiert, unsere Aufmerksamkeit zu absorbieren. Ja, wir werden uns manchmal ablenken lassen, aber wir müssen versuchen, diese Momente zu beherrschen. Und wir müssen dafür sorgen, dass sich unsere Kinder nicht klein und zurückgesetzt fühlen.“Unnützes Wissen – Handy 22.30